4 Dorfspiegel Wangen-Brüttisellen / Dietlikon Kurier Nr. 10 9.3.2023 Nachhaltig im Alltag – Teil 1/3 Kann man das noch essen? Im ersten Artikel unserer dreiteiligen Nachhaltigkeitsreihe, die immer auch einen Blick auf die Kuriergemeinden wirft, widmen wir uns dem Essen. Lebensmittelverschwendung ist einer der ganz grossen Klimakiller. Einen erheblichen Anteil davon können wir in unserem Alltag selbst beeinflussen. Genauso verhält es sich auch mit der Flut an Plastikmüll. Raffaela Ulrich Viele denken bei den Worten «nachhaltig leben» sofort an die teure Solaranlage auf dem Dach oder das noch teurere Elektroauto. Nachhaltig zu leben hat in erster Linie aber nichts mit grossen Anschaffungen zu tun. Nachhaltigkeit beginnt in unserem normalen Alltag und gerade im Bereich Essen gibt es grossen Handlungsbedarf. In der Schweiz landen jährlich 2,8 Millionen Tonnen Lebensmittel im Müll. Das entspricht einer LKW-Kolonne von Zürich bis nach Madrid. Die Lebensmittelverschwendung verursacht so viel Umweltbelastung wie die Hälfte aller Schweizer Autofahrten! Anstatt immer nur den Strassenverkehr anzuprangern, sollten wir also erst mal dringend unseren Foodwaste in den Griff kriegen. Ein Drittel der Lebensmittel wird hierzulande weggeschmissen. 20 Prozent davon fallen schon in der Landwirtschaft an, 34,5 Prozent bei der Verarbeitung, 10 % im Gross- und Detailhandel, 7,5 % in der Gastronomie und ganze 28 Prozent in den Haushalten. Dass bereits in der Produktion und im Verkauf von Lebensmitteln Vieles schief läuft, hat auch der Bund erkannt und endlich reagiert, doch das allein reicht nicht. Ein riesiger Anteil der Lebensmittelverschwendung geschieht bei uns zu Hause. Der Wert der Lebensmittel Die Wertschätzung der Lebensmittel ist in unserer Gesellschaft verloren gegangen. Während in den 1950er-Jahren durchschnittlich noch etwa 30 Prozent des Einkommens für Lebensmittel eingesetzt wurden, sind es heute gerade mal 6,7 Prozent. Wir wollen möglichst wenig für Lebensmittel bezahlen, haben aber riesige Ansprüche. Eine grosse Auswahl soll es bitte schön sein, natürlich bis Ladenschluss, und nur perfekt aussehendes Obst und Gemüse. Beulen, Kerben oder schorfige Stellen? Oh nein, so etwas will die verwöhnte Kundschaft nicht. Seit Jahren bekommen Supermarktkonsumenten nur das perfekte Gemüse vorgelegt. Man hat uns dazu konditioniert zu glauben, dass jeder Apfel makellos und jedes Rüebli schnurgerade zu sein hat. Mittlerweile sind die Schönheitsanforderungen der Detailhändler bei Obst und Gemüse genauso daneben, wie diejenigen in der Modelbranche. Dagegen können wir Konsumenten nur angehen, indem wir unsere optischen Ansprüche herunterschrauben, ganz nach dem Motto: «Auf die inneren Werte kommt es an.» Kaufe ich Äpfel für den nächsten Wanderausflug, dann greife ich zu den Glänzenden, Knackigen. Kaufe ich hingegen Äpfel für eine Wähe oder zur Verarbeitung in einem Dessert, dann nehme ich die weniger schönen, die Schrumpeligen mit den Dellen und schorfigen Stellen. So werden alle verwendet und nichts muss weggeworfen werden. Der Bund reagiert Aktionsplan gegen Lebensmittelverschwendung Am 6. April 2022 hat der Bundesrat einen Aktionsplan gegen Lebensmittelverschwendung verabschiedet. Dieser richtet sich an die gesamte Lebensmittelbranche sowie an Bund, Kantone und Gemeinden und gibt als Ziel die Halbierung der vermeidbaren Lebensmittelverluste bis 2030 vor. Um dieses Ziel erreichen zu können, müssen Lebensmittelverluste bis 2025 um rund 25 Prozent verringert werden. Der Aktionsplan ist in zwei Phasen (2022 – 2025 und 2026 – 2030) gegliedert. In der ersten Phase wurde eine branchenübergreifende Vereinbarung abgeschlossen, die das Gastgewerbe, den Vertrieb, die verarbeitende Industrie und die Landwirtschaft betrifft. Die Reduktionsziele müssen durch freiwillige Massnahmen erreicht werden. Dazu gehören beispielsweise eine verbesserte Angabe der Haltbarkeitsdauer für bestimmte Produkte, das vermehrte Spenden von unverkauften Lebensmitteln an gemeinnützige Organisationen, die Optimierung von Verpackungen oder eine bessere Anbauplanung. Im Jahr 2025 wird der Bund prüfen, ob die Massnahmen des Aktionsplans ausreichen. Sollte sich herausstellen, dass die bestehenden Massnahmen nicht ausreichen und die Lebensmittelverluste nicht rasch genug reduziert werden können, kann der Bund in der zweiten Phase zusätzliche Massnahmen ergreifen. Wieso? Beeren mitten im Winter. Sehen so schmackhafte leckere Erdbeeren aus? (Fotos ru) In den unschönen Früchten stecken genauso viele Ressourcen, Arbeitsaufwand und Energie wie in den makellosen Exemplaren. Sie wegzuwerfen, nur weil sie nicht perfekt sind, ist überheblich und moralisch höchst verwerflich. Es zeigt deutlich wie wenig wir die anstrengende Arbeit der Landwirte und die Gaben der Natur zu schätzen wissen. Nachhaltig einkaufen Wer bewusst nur das kauft, was er wirklich braucht und bei Obst und Gemüse auf die richtige Saison achtet, spart bares Geld und leistet zudem einen grossen Beitrag zum Schutz unseres Planeten. Gerade in den Kuriergemeinden (und rund herum) ist das regionale und sogar lokale Angebot riesig. Es gibt eine Vielzahl an tollen Hofläden, privaten Verkaufsständen und Selber- Pflück-Feldern. Fleisch, Eier, Milch, Konfitüre, Brot, Früchte und Gemüse, alles was das Herz begehrt direkt von hier. Es kostet teilweise vielleicht ein paar Franken mehr, aber dafür bleibt das Geld genau da, wo es hingehört, beim lokalen Produzenten. Schnäppchen oder nicht? Wer liebt es nicht, das ultimative Schnäppchen zu machen? Schilder mit den Aufschriften «3 für 2», «Sale 70 %» oder «Aktion» ziehen uns magisch an. Heruntergesetzte Produkte zu kaufen, ist für das Gehirn wie Geld geschenkt bekommen. Neurowissenschaftler haben in zahlreichen Studien und Experimenten nachgewiesen, dass Rabatte das Belohnungszentrum im Gehirn aktivieren. Wird Geld in Aussicht gestellt, schüttet der Körper Dopamin aus – genau wie beim Sex, beim Glücksspiel oder beim Essen von Schokolade. Das Kontroll-Areal für rationales Denken und Vernunft wird einfach ausgeschaltet. Man ist high und kann dem vermeintlichen Schnäppchen nicht widerstehen. Dadurch lassen wir uns oft in die Irre führen und tappen in die Schnäppchenfalle. «Oh, die Joghurt sind im 4er- Pack gerade Aktion!», zack landen vier Joghurt im Einkaufswagen, wo man doch eigentlich nur zwei kaufen wollte. Das grandiose Gefühl ein Schnäppchen gemacht zu haben, hält aber leider nicht lange an
Kurier Nr. 10 9.3.2023 Dorfspiegel Wangen-Brüttisellen / Dietlikon 5 man sie in ein Glas mit Wasser einstellt. Weitere Tipps und Tricks gibt’s vom Grosi oder im Internet. Madame Frigo: öffentlicher Kühlschrank an der Dorfstrasse 5 in Dietlikon. und spätestens wenn das vierte Joghurt im Müll landet, weil das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist, hat man gar nichts gespart. Im Gegenteil. Durchschnittlich gibt jeder Haushalt jährlich etwa Fr. 1000.– aus für Lebensmittel, die nicht gegessen werden! Um eben nicht in diese Schnäppchenfalle zu tappen, gibt es nur eine Strategie: Cool bleiben! Sich fragen: Brauch ich das wirklich? Hätt ich’s auch gekauft, wenn’s nicht Aktion wäre? Wann werd ich’s essen? Kann ich es einfrieren? Mindestens haltbar bis Das Mindesthaltbarkeitsdatum ist oft das Todesurteil für viele noch gute Lebensmittel. Denn entgegen seinem wortwörtlichen Sinn, hat es sich in unseren Köpfen als «Ablaufdatum» festgesetzt. Seit der Einführung des Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) im Jahre 1981, hat sich sogar unser Sprachgebrauch angepasst. Anstatt zu sagen «das Datum ist abgelaufen» sagen wir «das Joghurt ist abgelaufen». Doch nur weil das aufgedruckte Datum verstrichen ist, heisst das noch lange nicht, dass das Produkt nach Mitternacht plötzlich verdorben ist. Denn zum Glück kann das Joghurt nicht lesen. Das MHD zeigt nicht an wann ein Produkt nicht mehr geniessbar ist, sondern es ist die Garantie des Herstellers, bis wann es in Minimum haltbar ist. Die meisten Lebensmittel sind Wochen und gar Monate darüber hinaus haltbar. Das MHD ist also lediglich eine Orientierungshilfe. Der ultimative Test sind Sehen, Riechen und Schmecken. Mit seinen Sinnen ist der Mensch bestens ausgestattet, um herauszufinden, ob Lebensmittel noch geniessbar sind. Die richtige Lagerung hat ebenfalls grossen Einfluss auf die Verderblichkeit von Lebensmitteln. Das Gemüse im Kühlschrank bleibt eingewickelt in ein feuchtes Küchentuch viel länger frisch und knackig. Küchenkräuter halten sich im Kühlschrank ebenfalls viel länger, wenn Bitte nicht wegwerfen Um die Lebensmittel zu produzieren, die in der Schweiz weggeworfen werden, braucht es eine Fläche von der Grösse des Kantons Zürich. Das darf nicht sein. Viele Wege führen nach Rom und auch zu weniger Lebensmittelverschwendung. Die App «Too good to go», www.foodwaste.ch und diverse Facebookgruppen (Stichwort «foodwaste»), in denen Lebensmittel weitergegeben, getauscht und verschenkt werden und ganze Ernten vor dem Müll gerettet werden können, tragen genauso dazu bei, wie der Verein re-serviert.ch in Uster, der nach Ladenschluss tonnenweise für die Entsorgung bestimmte (aber noch gute) Lebensmittel bei Detailhändlern im Zürcher Oberland abholt und gegen einen symbolischen Beitrag eines Zweifränklers an alle abgibt. «Madame Frigo» in Dietlikon So auch bei «Madame Frigo», dem öffentlichen Kühlschrank, der seit genau einem Jahr an der Dorfstrasse 5 in Dietlikon steht (der Kurier berichtete). Der gelbe Blickfang ist für alle da. Während er zu Anfang rege genutzt wurde, bleibt er seit letztem Herbst öfters mal leer. Ob dies nun dem Umstand geschuldet ist, dass die Dietliker:innen besser haushalten oder ob der Frigo langsam etwas in Vergessenheit geraten ist, lässt sich nicht sagen. Plastikverpackungen Wer saisonal und regional einkauft, spart oftmals auch Plastikverpackung. Schweizer Haushalte verbrauchen jährlich eine Million Tonnen Plastik. Rund ein Drittel davon sind Einwegverpackungen. Der Wille in der Bevölkerung diese zu sammeln und zu recyceln ist gross. So gross, dass sogar zu- Food waste verursacht so viel Umweltbelastung wie die Hälfte aller Schweizer Autofahrten! sätzliche Sackgebühren in Kauf genommen werden. Der ökologische Nutzen einer gemischten Sammlung hingegen ist eher bescheiden. Insbesondere da es sich bei den meisten Plastikverpackungen um Kunststoffmixturen handelt und diese aufgrund ihrer Beschaffenheit gar nicht recycelbar sind. Damit sich gemischt gesammelte Plastikabfälle überhaupt für ein nachgelagertes Recycling eignen können, müssen sie erst aufwändig sortiert werden. Dafür werden die in der Schweiz gesammelten Kunststoffabfälle nach Deutschland oder Österreich exportiert. Doch auch dort kommen Auch aus hässlichen Äpfeln werden leckere Bratäpfel oder eine fantastische Wähe. modernste Sortieranlagen an ihre Grenzen. Zur manuellen Nachsortierung wird der Plastikmüll dann nach Asien oder in osteuropäische Länder weiter exportiert. Laut dem deutschen Statistischen Bundesamt (Destatis) ist Deutschland EU-weit grösster Exporteur von Kunststoffabfällen. Im Jahr 2021 waren es gut 766 200 Tonnen. Da dürfte auch ein beachtlicher Anteil Schweizer Plastikmüll dabei gewesen sein, denn hinter den Niederlanden und Polen steht die Schweiz mit über 60 000 Tonnen auf Platz 3, der Länder die 2021 am meisten Kunststoffabfall nach Deutschland eingeführt haben. Die Recyclingquote eines Kunststoffsammelsacks liegt bei etwa 50 Prozent. Das heisst nur die Hälfte des gesammelten Plastikabfalls wird wiederverwertet. Die anderen 50 Prozent bleiben im Ausland und landen dort in der Verbrennung oder im Meer. Die Sammlung von gemischten Kunststoffen aus Haushalten ist hauptsächlich eine Beruhigung unseres schlechten Gewissens. Die Lösung des Plastikproblems ist sie jedoch nicht. Da wir uns einreden, dass der Kunststoff ja komplett recycelt wird, verbrauchen wir munter weiterhin viel zu viele Einwegverpackungen. Das trägt zur Verschlimmerung des Problems bei. Viel zielführender als eine gemischte Kunststoffsammlung, wäre die massive Reduktion unseres Kunststoffverbrauchs und der Verzicht auf jegliche unnötigen Einwegverpackungen. Jedes Plastiksäckli das beim Kauf von Obst und Gemüse nicht verbraucht wird, hilft.
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